Und draußen der Dschungel

Im äußerlich altehrwürdigen ehemaligen Wilhelmgymnasium ist, seit es 1945 umgezogen ist, ein Teil der Hamburger Universität untergebracht. Einen für damalige Verhältnisse monumental wirkenden Kuppelbau hat man in Stahlbetonbauweise dem Allgemeinen Vorlesungswesen errichten lassen. Entsprechend waren es Gastdozenten oder Direktoren wie der des nahegelegenen Botanischen Gartens, die hier dozieren.

Im Inneren des Gebäudes ist das Treppenhaus aus der Gründungszeit noch erhalten, unter dem Linoleum, so scheint es, knarzen die alten Dielen. In den ehemaligen Klassenräumen wird zur Exilliteratur geforscht und, als habe man lange überlegen müssen, welche Disziplinen man hier unterbringt, zur Homöopathie.

Ich bin gekommen, um den einen wissenschaftlichen Artikel über ein Autorenpaar zu lesen, das aus Hamburg fortgezogen und in den Vereinigten Staaten von Amerika zu literarischem Ruhm gelangt ist. Ich erhoffe mir Aufschluss über einige Merkwürdigkeiten der biografischen Abrisse, die ich bislang habe finden können. In der einen oder anderen Ausgabe ihrer Bücher finden sich versprengte biografische Notizen. Insgesamt, so scheint es, bedienen sich alle dabei einer Handvoll biografischer Daten. Zuversichtlich, dass eine Forschungsstelle für deutsche Exilliteratur, sich der Biografie von Hans Augusto Reyersbach und Margarete Waldstein angenommen wird und sich das Dunkel erhellt, trete ich ein.

Ich trete zwischen den bis zur Decke mit Büchern vollgestellten Regalen eines Lesesaales hindurch an eines der Fenster. Anstatt zu lesen, wofür ich hergekommen bin, zieht das subtile Rauschen des Verkehrs meine Aufmerksamkeit hinaus. Doppelte Glasscheiben sperren einen Teil der Frequenzen aus. Das aggressive Ächzen, Tosen und Dröhnen der Achsen, Räder und Motoren, hier drin gibt sich als harmloses Hintergrundgeräusch aus. Man möge sich doch bitte nicht stören lassen beim Studium.

In Lesesälen habe ich statt zu lesen zumeist Menschen beim Lesen beobachtet, habe sie manisch die immer gleiche Haarsträhne aus der Stirn wischen sehen, die Brille sanft zur Nasenspitze hin verschieben und zurückschieben sehen. Nur gelesen habe ich nicht.

Ich habe ich mich gefragt, wer um alles in der Welt sich die Mühe gemacht hat, Sammelbände zur Sittengeschichte des 17. Jahrhunderts akkurat in Kunstleder einzubinden und zu beschriften. Wer eine kühn mit einem Bleistift angebrachte und inzwischen scheinbar sinnfreie Signatur im Buchumschlag angebracht hat. Und wenn ich denn zu lesen begonnen hatte, war es der wie ein heimliches Zeichen angebrachte saubere Knick in einer Buchseite, der meine Gedanken abschweifen ließ.

Statt zu lesen haben ich so lange tatenlos herumgesessen, bis ich zuverlässig die Aufmerksamkeit irgendeiner Bibliotheksaufsicht auf mich gelenkt hatte, weil ich es schaffte, inmitten einer der Bildung des Geistes geweihten Stätte wie derjenige zu wirken, der nur der Trockenheit und Wärme wegen gekommen war, dessen Leseausweis wahrscheinlich unter dubiosen Umständen ausgestellt worden war und daher einer näheren Überprüfung bedurfte.

Die wenigen Seiten des Artikel habe ich dann aber schnell gelesen. Gleich zu Beginn erwähnt die Autorin wie beiläufig, dass der junge mann, der Hans einmal war, damals in genau dem Gebäude zur Schule gegangen ist, indem ich mich befinde, als ich die Worte lese. Sofort reißt meine Konzentration wider ab. Ich schaue mich um und habe keinerlei Schwierigkeiten, den mich umgebenden Raum als Klassenraum des inzwischen umgezogenen ehrwürdigen Wilhelm-Gymnasiums zu sehen.

Das 1881 als Neue Gelehrtenschule gegründete Institut, wird gleich wieder umbenannt. Zu Ehren des Kaisers heißt es zwei Jahre später Wilhelm-Gymnasium. 1885 bezieht man den wuchtigen Neubau in bester Lage. Natürlich dient die Erziehung der Heranbildung dem Kaiser treu ergebener Untertanen Sie ist aber auch humanistischen Idealen verpflichtet. Im fortschrittlichen Wilhelmgymnasium dürfen auch Nichtprotestanten höhere Bildung erhalten. Dass der Jude Hans Augusto Reyersbach hier zwischen 1907 und 1916 das Gymnasium besucht, ist also Ausdruck der liberalen Gesinnung, auf die Hamburg stolz ist.

Die Lehrer unternehmen sogar Ausflüge in die nähere Umgebung. Nach Geesthacht und Reinbeck führen sie ihre Klassen, an den Schaalsee oder nach Mölln und immer wieder in die Lüneburger Heide reisen sie mit dem Zug.

Fotografien aus dieser Zeit zeigen die üblichen Matrosenanzüge und gestärkten Kragen. Sie zeigen aber auch locker auf einem norddeutschen Heideboden sich räkelnde Jungen, einer keck, den Kopf in die Hand gestützt und in die Kamera lächelnd, andere die Pose des Lehrer nachahmend, der mit verschränkten Armen im Hintergrund steht. Der Mann hat offenbar seine Anzugjacke abgelegt und die ganze Szene strahlt eine gelöste und friedliche Stimmung aus, die so gar nicht zum oft von dieser Zeit vermittelten Bild der Schule als Drillanstalt passen will.

                                    Ausflug einer Schulklasse des Wilhelm-Gymnasiums in die Lüneburger Heide,

                                     1913 oder 1914

Zeichenunterricht im Sinne einer Schulung künstlerischer Neigungen oder Fähigkeiten wäre dem Wilhelminischen Gymnasium aber fremd. Gelehrt werden, man beachte die die Reihenfolge der Bücherliste damals: Religionslehre Deutsch, Lateinisch, Griechisch, Französisch und Englisch, Geschichte, Erdkunde, Mathematik und schließlich Naturkunde und Physik.  Der Zeichensaal dient also abseits der Ausflüge dem akademischen Studium der Natur.

Jemand hat etwas hereingetragen, das auf dieser Fotografie wie ein strunkiger Baumstumpf aussieht. Ein weiteres Exemplar findet sich rechterhand auf einem Wandregal. Möglich, dass Freihandzeichnen auf dem Lehrplan steht. Jemand hat mit sicherer Hand eine Zeichnung des Objektes angefertigt und die jungen Herren aufgefordert, es ihm gleich zu tun. Der Raum ist menschenleer.

Die jungen Männer in ihren Uniformen lassen wir eintreten in das Bild. Wir dürfen uns vorstellen, wie sie schweigend über die Tische gebeugt zeichnen. Das akademische Zeichenstudium findet in Reih und Glied statt. Einem ist ein Bleistift abgebrochen. Er reicht ihn durch die Reihen zum außen sitzenden Mitschüler, der nach Aufforderung esrt, das Wort an den Lehrer richten darf. Nach einer weiteren Aufforderung darf er nach vorne treten und den Tadel für das zerstörte Zeichengerät entgegennehmen und hat sich nach einer weiteren Aufforderung höflich zu bedanken. Auf umgekehrtem Weg kommt der Stift zurück zum Missetäter. Es bleibt still. Nur das Scharren der Stifte über Papier, ein Stöhnen hin und wieder über eine missglückte Linie ist zu hören.

Vielleicht sitzt Hans am Fenster. Unterhalb der Fenster das Getrappel und Geklacker der Pferdefuhrwerke hören, das Gebrüll der Kutscher und darüber zuweilen das schneidende Quietschen der Bahn, die die Vororte mit dem zu Ehren des Kaisers errichteten Dammtorbahnhof verbindet. Aber das hört er nicht. Durch die geschlossenen Fenster kann er nämlich über die Straße hinsehen und dort Hecken, die den Tierpark und den Botanischen Garten umgeben. Da träumt er sich hin.

Den Artikel will ich zuhause in Ruhe lesen, denn hier finde ich keine mehr, seit die Gymnasiasten des Wilhelm-Gymnasiums mit mir den Raum teilen. Immer noch stehe ich zwischen den hoch aufragenden Regalen und denke mich hinaus, weit hinweg, über die vierspurige Straße, die Bahngleise, den Park, der die funktionalen Gebäude umgibt. Mein Geist fliegt auf und davon. Er findet aber keinen Halt und als er wieder hereinfliegt und ich mich umsehe, sehe ich einen jungen Mann eine flüchtige Skizze anfertigen. War der vorhin schon da? Alle anderen machen sich digitale Notizen, tippen etwas in Tastaturen. Was immer sie auch tun – der sanfte Widerschein der Bildschirme gibt ihrem Schreiben etwas Gewichtiges und Wahrhaftiges. Er aber hat einen karierten Collegeblock vor sich und zeichnet offenbar etwas. Ich beobachte ihn fasziniert, weil ich mir vorstelle, einen der stummen Zeichner aus den letzten Tagen des Kaiserreichs vor mir zu sehen. Vielleicht hat er einfach das Pausenklingeln überhört, hat die Aufforderung des Professor Böhschat überhört, doch bitte den anderen zu folgen. Er ist einfach sitzen geblieben, vertieft in sein Zeichnen. Darüber ist der Krieg ausgebrochen und das ganze verdammte Kaiserreich zu Runde gegangen. Er hat weiter gezeichnet und das Ringen  der schwachen Befürworter und machtvollen Feinden der Republik verpasst,  den Aufstieg und Fall des 1000jährigen Reiches. Präsidenten sind gekommen und gegangen, Kanzler und Moden, Menschen sind zum Mond geflogen und in der Atmosphäre verglüht.  Man hatte sich irgendwann daran gewöhnt, dass er dasitzt und zeichnet und deshalb um ihn herum das Gebäude mehrfach renoviert, sogar Wände versetzt. Hin und wieder hat er aufgesehen, so auch jetzt, war aber zu sehr vertieft in sein Tun, dass er hundert Jahre hat vorbeiziehen lassen und dabei keinen Tag gealtert ist.

Unsere Blicke treffen sich ganz kurz und dann, ich könnte nicht sagen, ob er wirklich wahrgenommen hat, dass ich da bin, geht sein Blick zum Fenster und ins Weite. Ich wünschte, ich könnte mich so versenken in mein Tun.

Hans zeichnet auch dann, wenn das nicht gefordert ist. Sogar dann, wenn es ausdrücklich untersagt ist. Umringt von einer Traube Mitschüler, im Stehen auf dem Schulhof, wenn der Pedell einmal nicht hinsieht oder unter dem Pult im Klassenraum. Er zeichnet zum eigenen Vergnügen und zu dem seiner Mitschüler. Karikaturen der Lehrer kann Hans blind anfertigen, ohne überhaupt das Entstehen mit den Augen zu kontrollieren. Er verfertigt ganze Schülerzeitungen in Eigenregie. Sein Geist ist wach und klar wie der Strich seiner Zeichnungen.

               Hans Augusto Reyersbach, Schülerzeitung des Wilhelm-Gymnasiums,

                 Handschrift und Federzeichnung 25.1.1916

Auch außerhalb des Gymnasiums schult er sein Talent, da zieht es ihn in den nahgelegenen Park, dessen Eingang nur ein Paar Schritte vom Schultor entfernt liegt. Schüler haben freien Eintritt. Dort beobachtet und zeichnet er Tiere. Hans kann Tierstimmen nachahmen wie kein zweiter. Im Botanischen Garten gibt es Pflanzen, die aus Neuguinea stammen, Mexiko oder Brasilien. Für jemanden, der mit Phantasie begabt ist, ist es leicht mehr zu sehen als nur ein Objekt im Kraepelin, dem zerlesenen Bestimmungsbuch, das in der Schule verwendet wird. Zwischen Tieren und Pflanzen kann sich hier wegträumen, an den Amazonas vielleicht.

Vom Wilhelm-Gymnasium sind es nur ein paar Straßen bis zur elterlichen Wohnung. Hans aber kommt zuverlässig zu spät.

 

Mai 1913

Hier noch einmal das Interview,  das die beiden 1966 geben.

 

Hans erzählt die Geschichte, wie beide sich kennengelernt haben. Margarethe will sich daran nicht erinnern. Das Ganze hat sich zu einer Zeit zugetragen, als der Kaiser das Deutsche Reich regierte. Margarthe war ein junges Mädchen und Hans ein frender Besucher in ihrer längst untergegangenen, fremden Welt.

Spielt es überhaupt eine Rolle, ob es sich genau so zugetragen hat, wie Hans zu erzählen weiß? Die Episode ist ebenso wie die von der Flucht auf Fahrrädern aus Paris, von der hier noch zu erzählen sein wird, so häufig erzählt worden, dass ihr längst alle Authentizität abhanden geworden ist. Sie ist ebenfalls Erzählung geworden.

Vielleicht ist die Geschichte von dem Mädchen auf dem Treppengeländer einfach ein schönes Bild und derjenige, der die Episode hört, dem ist sie geschenkt und er darf sie vor dem inneren Auge in ein großeres Bild umformen. Und das sieht vielleicht so aus:

 

Da kommt Doktor Waldstein, nebst Gattin und vier Kindern. Der ehrenwerte Rechtsanwalt aus Altona, seit letztem Jahr Abgeordneter der Deutsch-Demokratischen Partei und Mitglied des Deutsches Reichstages für Schleswig-Eckernförde, hat großzügig seine spärliche Freizeit geopfert und ist mit der ganzen Familie ins benachbarte Hamburg gereist. Ein Besuch des Tierparkes und angrenzenden Botanischen Gartens steht auf dem Programm. Am lautstärksten eingefordert hatte es die siebenjährige Margarete. Alle ihre Freundinnen, so hatte sie wiederholt behauptet, wären schon da gewesen und hätten den Elefantennachwuchs gesehen. Und so wäre Margarte denn zufrieden, weil sie wieder einmal ihren Kopf durchgesetzt hat, allein, das neugeborene Elefantenmädchen leidet an einer Unpässlichkeit und will sich nicht zeigen. Jetzt fordert sie als Kompensation einen Ballon. Und einen längeren Aufenthalt auf der Schaukel, die sie erspäht hat. Den Botanischen Garten, den Frau Waldstein insgeheim einmal von innen zu sehen gehofft hatte, weigert sich Margarete auch nur von außen in Betracht zu nehmen. Die große Schwester solle ihr, in Gottes Namen, ein Ballon kaufen und dann Anschwung geben. Die Angesprochenen reagiert gefasst. Sie hat es kommen sehen, weigert sich aber, mit der Kleinen hier untätig herumzustehen.  Sie wolle nicht allein verantwortlich sein, wenn man Margarete später suchen müsse. Den letzten Ausflug in den Jenisch-Park haben alle in weniger guter Erinnerung haben.

Clara befürwortet lautstark eine vorzeitige Rückfahrt nach Altona.

Jetzt ist es am Abgeordneten ein Machtwort zu sprechen. Dies ist inzwischen ein unwillkommener Aufruhr. Der Abgeordnete ist eine Person des öffentlichen Lebens und daher auf eine tadellose Außenwirkung angewiesen. Nein, eine Rückfahrt kommt nicht in Betracht! Kurz ist er versucht, bei der zuständigen Pflegekraft vorstellig zu werden, um seiner Tochter doch den ersehnten Blick auf den Elefantennachwuchs zu verschaffen. Ein Blick in das Gesicht seiner Frau bekehrt ihn aber und er gibt nun vor, ebenfalls großes Interesse an den exotischen Farnen zu haben. Den Mädchen übergibt er nebst 20 Pfennigen für Ballon und zweimal Eis eine dringende Bitte: Sie möchten bitte dafür Sorge tragen, dass sich ihre Mienen aufhellen bis zur Rückkehr der Eltern. Davon werde er, und da spreche er auch im Namen der Mutter, weitere Ausflüge wie diesen abhängig machen.

Die Mädchen, von tief empfundenem Missmut erfüllt, hätten wohl weiter ihr Schicksal beklagt, wäre nicht ein junger Mann in den Blick geraten, der offenbar seit geraumer Zeit, nur ein paar Schritte entfernt, am Affenkäfig steht. Weder hat er sie gehört, noch gesehen, aber Margarete hat ihn erkannt. Ehe Clara erkennt, auf wen sie da zugehen, hat Margarete ihre große Schwester an seine Seite gezogen.

Wie es scheint, zeichnet er konzentriert etwas auf ein Papier, das er auf einem Klemmbrett balanciert. Selbst als sie herangetreten sind, hebt er nicht den Kopf. Sie ist ihm bereits begegnet. Zuerst bei einer Veranstaltung des Zentralvereins der Mitbürger jüdischen Glaubens, an der teilzunehmen ihr Vater ihr auferlegt hatte, um sie, wie er wörtlich gesagt hatte, in die Gesellschaft einzuführen. Den gleichaltrigen Hans hatte das gleiche Schicksal ereilt, das er mit bewundernswertem Gleichmut zu ertragen schien, der sie gleichzeitig fasziniert und befremdet hatte. Während der nicht enden wollenden Grußworte an die Zuhörerschaft, hatte Hans auf Papierservietten Karikaturen der Redner angefertigt. Den Präses der Handelskammer als sich spreizenden Pfau hatte er ihr schenken wollen. Geschenke dieser Größenordnung dürfe sie nicht annehmen. Sie hatte nicht gewusst, woher dieser kecke Witz gekommen war. Ganz entgegen ihren sonstigen Gepflogenheiten hatte sie vorgeschlagen, er könne ihr die Zeichnung sehr wohl leihweise zu übergeben, wenn er zusage sie sich nach einer angemessenen Frist wieder persönlich abzuholen. Ob 14 Tage angemessen wären, hatte er gefragt. Sie war errötet, hatte jedoch ihren letzten verbliebenden Mut zusammengenommen und ihm die Adresse genannt.

Er war tatsächlich erschienen, und diese zweite Begegnung hätte aus Claras Sicht, doch dafür war es nun zu spät, gerne die letzte sein dürfen.

Nervös sein Erscheinen erwartend, hatte sie mehrfach ihre Zöpfe auf- und wieder hochgebunden um sich zwischendurch für ihr Vorpreschen zu schelten. Allein der Gedanke an den unausweichlichen, nachmittäglichen Kaffee mit Vater und Mutter auf der Südterrasse, bei dem ihr Vater den Galan befragen würde und sie kaum ein Wort miteinander würden reden können, ließ sie zweifeln, ob sie noch bei Verstand gewesen war, als sie ihn eingeladen hatte. Während sie das Klingeln der Tür wohl gehört hatte, aber es für richtig befand, im Obergeschoss zu bleiben und sich fürs Erste rar zu machen, war Margarethe, die Unsägliche, ihm auf dem Treppengeländer entgegengerutscht. Sie war ungebremst in den hereintretenden Hans hinein gerauscht. Beide waren zu Boden gegangen. Weil Hans eine schwere Verletzung simulierend am Boden liegen geblieben war, war Margarete kurz verschreckt gewesen. Dann aber, als sie merkte, was hier gespielt wurde, hatten beide unmäßig zu lachen begonnen. Jedesmal, wenn Margarete sich im Verlauf des Nachmittags irgendwo im Garten gezeigt, hatte Hans sich mit scheinbar schmerzverzerrtem Blick ans Knie gefasst, die Clara zunächst charmant, dann irritierend und schließlich nervtötend gefunden hatte.

 

Margret_Waldstein_1912
Margarethe Waldstein, ca. 1912 im Alter von sechs Jahren

 

Die große Schwester hatte schließlich darauf bestanden, ihm die Zeichnung zurückzugeben. Da beide kein Interesse hatten, einander wieder zu treffen, war die Verabschiedung unverbindlich, für scharfe Beobachter, wie ihre Mutter ein war, sogar ein wenig frostig gewesen.

Immer noch zeichnet er. Das immer gleiche Äffchen, wie es scheint, in immer anderer Perspektive. Kaum einmal setzt er den Stift ab und wenn, dann nur um erneut zu den Tieren hinüber zu schauen. Dass die Schwestern direkt neben ihm stehen, scheint er nicht zu bemerken. Es wäre noch Gelegenheit, sich still und heimlich zu verziehen, aber sie ist ja mit Margarethe da! Die tippt ihm vorsichtig in die Seite. Er blickt auf von seinem Tun, ihre Blicke treffen sich und, als hätte sie es geahnt, scheint ihn urplötzlich ein stechender Schmerz aus der Seite zu quälen. Theatralisch knickt er, wie von einer Gewehrkugel getroffen, ein. Das ist es wohl, worauf die alberne kleine Schwester abgesehen hat. Sie schüttet sich nun aus vor Lachen über ihren albernen Witz. Und dann dringt sie weiter in ihn, stupst ihn, wieder und wieder, und Hans kann offenbar nicht anders, als das köstlich finden.

Ob er sie überhaupt wahrgenommen hat, könnte sie nicht sagen.

Es ist zum aus der Haut fahren! Wenn Clara nicht wüsste, dass die beiden acht Jahre trennen, Hans und Margarethe, sie würde glauben, ein sich neckendes Liebenspaar vor sich zu sehen.

Mit Unsinn gegen den Wahnsinn der Zeit

Hans zeichnet.

Wiesenthal_wird_von_Pifesser_5_March_1914

Mitschüler erinnern sich in einer Festschrift des Wilhelm-Gymnasiums als alte Männer iher Schulzeit und des Jungen, der Karikaturen von Lehrern blind anfertigen kann.

Hans zeichnet zum eigenen Vergnügen und zu dem anderer. Sicher auch dann, wenn es ausdrücklich untersagt ist: Umringt von einer Traube Mitschüler. Im Stehen auf dem Schulhof, wenn der Pedell einmal nicht hinsieht. Oder unter dem Pult im Klassenraum.

Er verfertigt ganze Schülerzeitungen in Eigenregie. Sein Geist ist wach und klar wie der Strich seiner Zeichnungen. Er scheint den Blöd-, Un-, Doppel und sonstigen Sinn seiner Welt zu erforschen und so wirken diese Zeugnisse seiner Schulzeit vollkommen un-beschwert.

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Die Ausgabe Nummer 34 (!) vom 25 Januar 1916 wird eine der letzten gewesen sein. Am 29. September desselben Jahres erhält Hans Augusto Reyersbach das „Zeugnis der Reife“. Seine Noten sind durchweg gut, im Englischen sogar „sehr gut“. Hans verlasse die Schule „um bildnerische Künste zu studieren“, ist dort ausdrücklich notiert. Als wüssten die Verantwortlichen nicht, dass davon nicht die Rede sein kann. Stattdessen wird er an die Front geschickt, in einen Krieg, der seit zwei Jahren in Europa tobt.

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Der Primaner Reyersbach hat den Krieg heraufziehen sehen. Der Oberprimaner konnte sehen, wie dieser Krieg sich zur Urkatastrophe des jungen Jahrhunderts entwickelte. Scheinbar schlägt sich das in den Dokumenten nicht nieder. Möglich ist aber, dass Hans den Blöd. Un-, Doppel-  und sontigen Sinn kultiviert hat, um Wahn-Sinn der Welt auf seine Weise zu trotzen.

 

Und draußen der Dschungel

Im äußerlich altehrwürdigen ehemaligen Wilhelmgymnasium ist, seit es 1945 umge-zogen ist, ein Teil der Hamburger Universität untergebracht. Einen für damalige Verhält-nisse monumental wirkenden Kuppelbau hat man in Stahlbetonbauweise dem Allgemeinen Vorlesungswesen errichten lassen. Entsprechend waren es Gastdozenten

Oder Direktoren wie der des nahegelegenen Botanischen Gartens, die hier dozieren.

Wilhelm2-1
Wilhem-Gymnasium, Hamburg. 4. Juni 1900

Im Inneren des Gebäudes ist das Treppenhaus aus der Gründungszeit noch erhalten, unter dem Linoleum, so scheint es, knarzen die alten Dielen. In den ehemaligen Klassenräumen wird zur Exilliteratur geforscht und, als habe man lange überlegen müssen, welche Disziplinen man hier unterbringt, zur Homöopathie.

Ich bin gekommen, um den einen wissenschaftlichen Artikel über ein Autorenpaar zu lesen, das aus Hamburg fortgezogen und in den Vereinigten Staaten von Amerika zu literarischem Ruhm gelangt ist. Ich erhoffe mir Aufschluss über einige Merk-würdigkeiten der biografischen Abrisse, die ich bislang habe finden können. In der einen oder anderen Ausgabe ihrer Bücher finden sich versprenget biografische Notizen. Insgesamt, so scheint es, bedienen sich alle dabei einer Handvoll biografischer Daten. Ich hoffe, dass eine Forschungsstelle für deutsche Exilliteratur, die sich der Biografie von Hans Augusto Reyersbach und Margarete Waldstein angenommen hat, das Dunkel erhellt und trete ich ein.

Ich trete zwischen den bis zur Decke mit Büchern vollgestellten Regalen eines Lesesaales hindurch an eines der Fenster. Anstatt zu lesen, wofür ich hergekommen bin, zieht das subtile Rauschen des Verkehrs meine Aufmerksamkeit hinaus. Doppelte Glasscheiben sperren einen Teil der Frequenzen aus. Das aggressive Ächzen, Tosen und Dröhnen der Achsen, Räder und Motoren, hier drin gibt sich als harmloses Hintergrundgeräusch aus. Man möge sich doch bitte nicht stören lassen beim Studium.

In Lesesälen habe ich statt zu lesen, zumeist Menschen beim Lesen beobachtet, habe sie manisch die immer gleiche Haarsträhne aus der Stirn wischen sehen, die Brille immer wieder sanft zur Nasenspitze hin verschieben und diese von dort hinuntersinken sehen. Nur gelesen habe ich nicht.

Ich habe ich mich auch gefragt, wer um alles in der Welt sich die Mühe gemacht hat, Sammelbände zur Sittengeschichte des 17. Jahrhunderts akkurat in Kunstleder einzubinden und zu beschriften. Wer eine kühn mit einem Bleistift angebrachte und inzwischen scheinbar sinnfreie gewordene Signatur im Buchumschlag angebracht hat. Und wenn ich denn zu lesen begonnen hatte, war es der wie ein heimliches Zeichen angebrachte saubere Knick in einer Buchseite, der meine Gedanken abschweifen ließ.

Statt zu lesen haben ich so lange tatenlos herumgesessen, bis ich zuverlässig die Aufmerksamkeit irgendeiner Bibliotheksaufsicht auf mich gelenkt hatte, weil ich es schaffte, inmitten einer der Bildung des Geistes geweihten Stätte wie derjenige zu wirken, der nur der Trockenheit und Wärme wegen gekommen war. Derjenige, dessen Leseausweis wahrscheinlich unter dubiosen Umständen ausgestellt worden war und daher einer näheren Überprüfung bedurfte.

Die wenigen Seiten hatte ich schnell gelesen. Gleich zu Beginn erwähnt die Autorin wie beiläufig, dass der junge Mann, der Hans damnals gewesen war, in genau dem Gebäude zur Schule gegangen pflegte, indem ich mich eben befand, als ich die Worte las. Sofort reißt meine Konzentration ab. Ich schaue mich um und habe keinerlei Schwierigkeiten, den mich umgebenden Raum als Klassenraum des inzwischen umgezogenen ehrwürdigen Wilhelm-Gymnasiums zu sehen.

Das 1881 als Neue Gelehrtenschule gegründete Institut, wird gleich wieder umbenannt. Zu Ehren des Kaisers heißt es zwei Jahre später Wilhelm-Gymnasium. 1885 bezieht man den wuchtigen Neubau in bester Lage. Natürlich dient die Erziehung der Heranbildung dem Kaiser treu ergebener Untertanen Sie ist aber auch humanistischen Idealen verpflichtet. Im fortschrittlichen Wilhelmgymnasium dürfen auch Nichtprotestanten höhere Bildung erhalten. Dass der Jude Hans Augusto Reyersbach hier zwischen 1907 und 1916 das Gymnasium besucht, ist also Ausdruck der liberalen Gesinnung, auf die Hamburg stolz ist.

Die Lehrer unternehmen sogar Ausflüge in die nähere Umgebung. Nach Geesthacht und Reinbeck führen sie ihre Klassen, an den Schaalsee oder nach Mölln und immer wieder in die Lüneburger Heide. Sie reisen mit dem Zug.

Fotografien aus dieser Zeit zeigen die üblichen Matrosenanzüge und gestärkten Kragen. Sie zeigen aber auch locker auf einem norddeutschen Heideboden sich räkelnde Jungen, einer keck, den Kopf in die Hand gestützt und in die Kamera lächelnd, adere die Pose des Lehrer nachahemnd, der mit verschränkten Armen und nur im Oberhemd im Hintergrund steht. Der Mann hat offenbar seine Anzugjacke abgelegt und er ganzen Szene strahlt eine gelöste und friedliche Stimmung aus, die so gar nicht zum oft von dieser Zeit vermittelten Bild der Schule als Drillanstalt passen will.

Wilhelm3
Ausflug des Wilhelm-Gymnasiums, Sommer 1913

Plötzlich wimmelt es um mich her vonjungen Männern in Schuuniformen. In Hozbänken sitzen sie aufgereiht vor dem Leherpult.

Vielleicht sitzt Hans am Fenster. Unterhalb der Fenster kann er das Getrappel und Geklacker der Pferdefuhrwerke hören, das Gebrüll der Kutscher und darüber zuweilen das schneidende Quietschen der Bahn, die die Vororte mit dem zu Ehren des Kaisers errichteten Dammtorbahnhof verbindet. Aber das hört er nicht. Durch die geschlossenen Fenster kann er nämlich über die Straße hinsehen und dort Hecken, die den Tierpark und den Botanischen Garten umgeben. Da träumt er sich hin.

Es zieht es ihn in den nahgelegenen Park, dessen Eingang nur ein Paar Schritte vom Schultor entfernt liegt. Schüler haben freien Eintritt. Dort beobachtet und zeichnet er Tiere. Hans kann Tierstimmen nachahmen wie kein zweiter. Im Botanischen Garten gibt es Pflanzen, die aus Neuguinea stammen, Mexiko oder Brasilien. Für jemanden, der mit Phantasie begabt ist, ist es leicht mehr zu sehen als nur ein Objekt im Kraepelin, dem zerlesenen Bestimmungsbuch, das in der Schule verwendet wird. Zwischen Tieren und Pflanzen kann sich hier wegträumen, an den Amazonas vielleicht.

Vom Wilhelm-Gymnasium sind es nur ein paar Straßen bis zur elterlichen Wohnung in die Hochallee und später in die Hansastraße. Aber Hans kommt zuverlässig zu spät.

 

Die Reise

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Hans Reyersbach und Margarethe Waldtsein

 

Wo findet die Reise ihr Ende und wo ihren Anfang?

Beginnt sie mit dem Binden der Schnürsenkel oder mit der Ausfahrt des Zuges aus dem Bahnhof? Oder beginnt sie bereits mit der ersten, vagen und verwegenen Überlegung, Jahre vorher? Endet sie dementsprechend weder der Rückgabe des geliehenen Paar Ski noch mit dem Sortieren der Fotografien? Hat die Reise möglicherweise weder ein klar definiertes Ende noch einen solchen Beginn?

Ihre Konturen gewinnt sie wohl, indem sie zu einer Erzählung gerinnt und dabei spielt es keine Rolle, ob damit eine Erinnerung aus ihr geworden ist, also eine innerliche Erzählung, oder ob ich meinem Gegenüber anbiete, ihr im gemeinsamen Gespräch zu folgen.

Ein Wesenszug der Reise, die zur Erzählung geworden ist, ist ihre erstaunliche Wandlungsfähigkeit und Anpassungsfähigkeit. Die Erzählung enthält einen Fundus an Material, der bei jeder erneuten Benutzung Neues, zuweilen Überraschendes zutage fördert. So gerinnt die wochenlange Rundreise an der Westküste der USA zu einer Anekdote über den hilflosen jungen Angestellten der Autovermietung, der auf die Frage nach der Fuktion der fremdartig wirkenden Automatikschaltung antwortete: „Sorry, this is my first day. I am from Bulgaria.“

Der Rest der Reise duckt sich in den Schatten dieses einen, hellen Moments.

So dehnt sich die Betrachtung des nachts scheinbar aus einem Nebental der Tiroler Alpen aufsteigenden Planeten zu einem alle mühsam errungenen, aber anscheinend unauffindbar verlorenen Gipfelaufstiege überstrahlenden Moment.

Erinnerung ist nichts fest Gefügtes. Ihr Wesen ist die Veränderung. So erschafft sich der  Versuch der Erinnerung eine eigene, neue Erinnerung, die mit tatsächlichen Gegebenheiten nicht viel gemein haben muss.

Da ist ein Ort in den Bergen, den meine Erinnerung nur in Fetzen bewahrt, weil Wolken ihn verhängen. Die Erinnerung bewahrt auch den Geschmack der vor fett triefenden Polenta, die  eine Köchin irgendwann auftischt. Ob an diesem Ort oder einem durch hunderte Kilometer und Jahre  getrennten, könnte ich nicht mit Bestimmtheit sagen.

Die krebsroten Wangen, als mein frisch rasierter Begleiter aus dem Bad tritt, vermischen sich mit dem Gefühl der scharfen Kühle, welches ich selbst nach der Rasur verspüre. Eigenes und Fremdes gehen eine Verbindung ein, Erdachtes, Erhofftes, mir Zugeschriebenes, Fernsehbilder und Buchlektüren. Eigene und fremde Erzählungen vermengen sich und geben sich schließlich als Reise meines Lebens aus.

Wenn ich das alles richtig verstehe, dann ist der Versuch, das Leben in eine Kette von Kausalitäten aufzulösen daher im Kern zum Scheitern verursacht.

Das eröffnet im Umkehrschluss dem Erzähler einer Reise ein weites Feld, auf dem er beliebig umherstreifen kann. Und das gilt vielleicht noch mehr für den, der von Reisen erzählen will, die Andere unternommen haben. Es wäre vermessen wissen zu wollen, wo und wann genau sie aufgebrochen sind und ob sie ihr Ziel erreicht haben.

Erzählen möchte ich von der Lebensreise zweier Menschen. Beide habe ich nie persönlich kennengelernt und beide sind vor langer Zeit gestorben. Ihre Reise scheint längst zu Ende gegangen zu sein, aber indem ich von ihr erzähle beginnt sie unmittelbar aufs Neue.

Meine Erzählung wird keinen Funken mehr an Wahrheit für sich beanspruchen können als die Erzählung einer beliebigen anderen Personen, die diesen Versuch unternähme. Und trotzdem möchte ich es wagen.

Es beginnt mit einem Lachen

Es beginnt mit einem Lachen. Die Hand zieht vom Mundwinkel aus einen Bogen hinaus und einen zurück. Ein Fleckchen oberhalb reicht für ein Auge, eine halbmondförmige   darüber für eine Augenbraue. Jetzt staunt das Auge über dem lachenden Mund.

Ein weiterer winziger Halbmond und wir sehen ein Ohr. Ansatzlos geht es weiter. Ein dritter, diesmal umfänglicher, von der Stirn über den Hinterkopf gezogen und nun schaut ein Äffchen keck aus dem Bild. Der Zeichner, der es entstehen lässt, benötigt für alles nur wenige Sekunden. Die Arbeit geht ihm leicht von der Hand.

promoting curious george

Jetzt, wo er die Zeichnung fertig gestellt hat, sehen wir von der Seite sein Gesicht. Er mag Ende sechzig sein. Mit weißem Oberhemd und dunklem Schlips unter der Anzugjacke ist er für einen festlichen Anlass gekleidet. Sein Spärliches Haupthaar quer über den Hinterkopf gekämmt, die Augen hinter einer wuchtigen, schwarzen Brille, eine markante Nase und ein verschmitztes Lächeln.

Die Dame im Hintergrund scheint ein wenig jünger. Auch ihr hochgeschlossenes Kleid und die frisch frisierte Lockenpracht lassen darauf schließen, dass die hier Anwesenden sehr wohl wissen, dass das ein Filmteam Aufnahmen gemacht werden.

Der Film da an diesem Tag entsteht, stammt aus dem Jahr 1966. Eine Tonspur ist nicht überliefert. Wir können also nur sehen und staunen über dies unwahrscheinliche Fundstück. Es sind schwarz-weiße Aufnahmen aus dem Kinderkrankenhaus Boston. Das Ehepaar, das in diesem einzigartigen und nur zweidreiviertel Minuten langen Film zu sehen ist, ist gekommen um eine Buchvorstellung mit seiner Präsenz zu beehren. Es ist ihr Werk, was hier und heute präsentiert wird. Die Dame, die das Zeichen mit munteren Kommentaren zu begleiten scheint, ist Margret Rey. Sie ist sechzig Jahre alt. Ihr Ehemann Hans ist acht Jahre älter. Die beiden leben in Boston und in Zusammenarbeit mit dem städtischen Kinderkrankenhaus haben sie ein Buch geschrieben, das sie heute der Öffentlichkeit vorstellen. Sie haben Spaß an der Sache, Hans am Zeichen und sie am Fabulieren.

Hans zeichnet offenbar Affen um Affen. Im nächsten Moment ist ein neuer auf einem Blatt Papier aufgetaucht. Und jetzt sehen wir offensichtliche amüsierte Krankenschwestern, die Margret zuhören und Hans beim Zeichen über die Schultern schauen. Und endlich sehen wir die Kinder, ganz offensichtlich kranke Kinder. Wir sehen ihr glasigen Augen und schweißnasses Haar. Manch einem Kind ist deutlich anzusehen, dass seine Begeisterung sich in Grenzen hält. Wer aufstehen konnte, ist aus dem Bett getrieben worden und soll nun, so wahrscheinlich das Kalkül des Fernsehteams, beim Anblick des lachenden Äffchens spontan gesunden. Stattdessen fängt die unerbittliche Kamera das Unbehagen angesichts der ganzen fremden Erwachsenen ein, die heute aufgetaucht sind. Doch als sich Margret zu einem Jungen in sein Bett herabbeugt um ihm aus einem Buch vorzulesen, sehen wir ihn aufmerksam die Zeichnungen darin betrachten und ihr zuhören. Und dann sehen wir ihn lachen.

Inzwischen scheint jedes Kind ein Exemplar des Buches zu haben. Das Autorenpaar hat auf viel zu Stühlen Platz genommen, sitzt mit Kindern um einen Tisch. Alle sind in irgendeiner Weise mit den Büchern befasst, sie blättern, lesen, laut oder leise. Die Bücher haben die Kinder offenbar in ihren Bann gezogen und auf das Filmteam scheint niemand mehr zu achten.

Zum Schluss des Filmchens zeichnet Hans mit einem Filzstift einen letzten kleinen Affen auf den klobigen Gips, den ein verschüchterter Junge tragen muss. Und wir sehen wie die Zeichnung ihn verändert, wie aus Skepsis ein zaghaftes Lächeln wird und daraus ein Strahlen. Curious George hat Hans daneben geschrieben. So heißt der Affe, dessen Abenteuer Curious George Goes To The Hospital 1966 erscheint.

Wundersam ist es, dass jemand sich die Mühe gemacht hat, diesen Film, Jahrzehnte sind seit den Aufnahmen vergangen, aus den Archiven des Boston Children´s Hospital hervorzuholen und der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Ein Glücksfall ist es ebenfalls, zeigt er das Paar, das ansonsten in der Abgeschiedenheit des Privaten ihrer Arbeit nachgehenden bei einem seltenen Ausflug in die Öffentlichkeit. Es sind die einzigen, verfügbaren Aufnahmen in bewegten Bildern, auf denen Hans und Margret zu sehen sind. Dass man sie, deren Ausdrucksmittel das geschriebenen Wort und die Tuschzeichnung waren, nicht sprechen hört, ist nicht verwunderlich. Mithilfe von Suchmaschinen lassen sich in den unendlichen Weiten des Internet Spuren wie diese finden. Spuren, die zu Hans und Margret führen. Wirklich zu ihnen zu gelangen, ist nicht möglich, denn Hans Augusto Reyersbach alias H.A. Rey ist vor vierzig Jahren verstorben. Seine Frau Margret, die als Margarete Waldstein geboren wurde, hat ihn um zwanzig Jahre überlebt. Folgt man ihren Spuren, die im Deutschen Kaiserreich beginnen, verlieren sie sich schnell wieder, wollen sich nicht zu gut beleuchteten Pfaden verbinden.

Wer das eine Fundstück hat finden können, wird dank ausgeklügelter Suchmaschinenfertigkeiten automatisch auf das andere stoßen. Es handelt sich um eine Tonaufnahmen und wieder scheint es einzigartig zu sein. In dem Ausschnitt aus einem Interview, das das freundliche Ehepaar ebenfalls im Jahr 1966, einer Journalistin gibt, sprechen beide darüber wie sie sich kenngelernt haben. Magrets Englisch weist einen unverkennbaren, deutschen Akzent auf:

 „We knew each other from germany“, beginnt sie.

Ihr Ehemann habe Deutschland 1925 verlassen, sie viel später und dort, in Brasilien, hätten sie sich getroffen.

Die Journalistin fragt überrascht nach, ob sie das richtig verstanden habe, dass sich die beiden in Brasilien getroffen und dann geheiratet hätten, sich aber schon einmal früher begegnet gewesen wären.

Interview 1966

Margret Rey bestätigt, so sei das gewesen und ihr Ehemann pflichtet ihr bei, ja, seine Frau erinnere sich nicht daran, aber sie sei ihm als kleines Kind auf dem Treppengeländer entgegengerutscht, als er am Fuße der Treppe gestanden habe und ihre Schwester zu besuchen.

Das kleine Mädchen war Tochter des Reichstagsabgeordneten Felix David Waldstein, mithin ein Teil der großbürgerlichen Welt. Der acht Jahre ältere junge Mann, der wohl als Galan der Schwester seine Aufwartung gemacht hatte, war niemand anders als Hans, der sie hier an das Bild des Mädchens auf dem Treppengeländer erinnert.

Hans ist ein Allerwelts-Name. Den exotischen anmutenden, zweiten Vornamen, Augusto (port. der Ehrwürdige), haben ihm die Eltern als Reminiszenz an mach Brasilien ausgewanderte Familienmitglieder mit auf die Reise gegeben.

Die beiden, deren Wege sich hier einmal kurz kreuzen, verlassen Hamburg und verlassen Deutschland mit dem Abstand von zehn Jahren um sich in Brasilien dann wahrhaft zu begegnen. Dort erst lernen sie sich kennen und lieben. Margarte nimmt als Ehefrau den Namen Rey an, denn Hans hat sich inzwischen von Teilen seines Familiennamens getrennt und nennt sich als Zugeständnis an die Gepflogenheiten in Brasilien einfach Rey.

Sie hätten also geheiratet und ihre Hochzeitsreise nach Paris unternommen. Geplant wäre ein Aufenthalt von etwa vier Wochen gewesen. Daraus seine aber über vier Jahre geworden, die sie noch dazu im selben Hotel verbracht hätten, wie Hans herausstellt. Sein Englisch weist kaum Spuren seiner deutschen Vergangenheit auf.

Das Ehepaar schwelgt inzwischen, das ist den heiteren Ton der Stimmen zu entnehmen, in heiterer Erinnerung und die Journalistin wird davon erfasst, als sie fröhlich beipflichtet, das klinge logisch, dass man in Paris ungeplant vier Jahre verbringe.

Lediglich 53 Sekunden sind von dem damaligen Gespräch offenbar erhalten. Wie beiläufig ergänzt Hans kurz vor Ende des Ausschnitts, sie hätten Paris verlassen müssen, weil der Krieg ausgebrochen sei. Wer weiß, welche Wendung das Gespräch damals genommen hat, aber der Ton, in dem er das sagt, klingt nüchtern.

Es ist nicht die Rede davon, dass beide damals um ihr Leben hätten fürchten müssen. Es fehlt ein Hinweis auf die abenteuerlichen Umstände ihrer Flucht aus Paris auf selbstgebauten Fahrrädern. Wir erfahren nicht von einer nun folgenden Flucht quer durch Frankreich, mit einer Habe, die sie in den Satteltaschen der Räder mitführen. Es ist nicht die Rede von den Sorgen, als die französischen Grenzbeamten in dem deutsch sprechende Paar mögliche Spione sehen. Nicht, wie das Gepäck durchsucht wird und die Buchmanuskripte, die sie mitführen alles entspannen. Wie ihnen die Bilder einer freundlichen Giraffe und einer fröhlich tobenden Meute von neun Affen vielleicht das Leben retten. Nicht, dass sie bis nach Lissabon reisen und großes Glück haben mit einem Schiff dem Krieg in Europa entfliehen können. Dass sie nach Brasilien reisen und von dort nach New York.

Und hätte sie danach gefragt, wäre ihr das der fragenden Journalistin nicht aberwitzig und kaum glaubhaft erschienen? Wie sollte diese Geschichte den ihr gegenübersitzenden, gesetzten älteren Herrschaften widerfahren sein, die an diesem Tag wie amüsiert auf sich und ihre Vergangenheit zurückschauen? Ach ja, der Krieg sein ausgebrochen, als falle ihm das eben erst wieder ein.

Vielleicht ist es so gewesen: Im Wissen um die anrückenden Truppen der deutschen Wehrmacht werden sie wieder und wieder abgewogen haben, was zu tun das richtige wäre. Natürlich haben sie sich nicht um der Pointe willen so spät entschieden, dass ihre Rettung heute wie im Moment des Interviews an ein Wunder grenzt. Es hat sich nur eben so ergeben und mag es rückblickend auch wie ein filmreifes Szenario anmuten, ist die Entscheidung, nun tatsächlich Paris zu verlassen, zunächst nicht mehr und nicht weniger als eine der Hunderten alltäglicher Entscheidungen, die sie als Ehepaar damals trifft. In dem Moment, in dem sie davon sprechen, ist das Erleben selbstverständlicher und festgefügter Teil ihrer Erinnerung, in der sich Spektakuläres und Alltägliches, Erinnerung an gemeinsame Freude und gemeinsame Not, an durchlebte Krankheiten oder das Bild eines Mädchens, das ein Treppengeländer herunterrutscht, verbinden.

Beiden Fundstücken wohnt ein schwer zu greifender Zauber inne. Sie transportieren ein fröhliches Staunen darüber hören, dass beiden, Hans und Maragrethe/Margret das Unwahrscheinliche gelungen ist, nämlich dieses Leben zu leben. Es ist wohl nicht weniger als das: Es ist eine Freude, am Leben zu sein.

Beide haben eine Vielzahl von Büchern veröffentlicht, zumeist gemeinsam, aber auch in Zusammenarbeit mit anderen. Ihr gesamtes Werk in einem Gedanken zusammenzufassen, ist vermessen und doch möchte ich einen Grundton formulieren und zu diesem einen Gedanken zuspitzen und meinem Schreiben voranstellen:  Die Kunst von H.A. und Margret Rey ist Ausdruck des Staunens, über das Glück am Leben zu sein.

Die Reise eines Lebens

Im Jahr 1940 kommen Hans und Margarethe mit dem Schiff in New York an um sich dort niederzulassen. Obwohl beide im deutschen Kaiserreich geboren wurden, werden sie in als brasilianische Staatsbürger registriert und das ist schon ein Hinweis auf den verschlungenen Weg ihrer Reise bis hierher. Im Gepäck bringen sie eine Reihe von Manuskripten illustrierter Kinderbücher mit, die auf ihrer abenteuerlichen Reise entstanden sind. Eine ihrer Figuren, Curious George, legt ab 1941 den Grundstein einer künstlerischen Erfolgsgeschichte. Der mit dem unerschütterlichen Optimismus und der unbändigen Neugier seiner Schöpfer ausgestattete Affe wird zum Inventar der Kindheit ganzer Genrationen.

Hans lebt bis zu seiner Auswanderung nach Brasilien 1925 ein wenig erfolgreiches Künstlerleben in Hamburg. Zehn Jahre später, aus ihm ist inzwischen ein Vertreter für Armaturen und Waschtische im Amazonasgebiet geworden, begegnet er in Brasilien einer jungen Dame wieder, die er aus Hamburg kennt. Die sechs Jahre jüngere Margarethe hat am Dessauer Bauhaus studiert, in Berlin und Düsseldorf. Sie nimmt erfolgreich an Ausstellungen teil, siedelt 1933 nach London über. In Deutschland haben die Nationalsozialisten die Macht übernommen. Margarethe ist, wie auch Hans, Deutsche jüdischen Glaubens. In London textet die umtriebige und begabte junge Frau für die Rundfunkwerbung. Im Jahre 1935 reist auch sie nach Brasilien aus.

Hans und Margarete heiraten und gründen die erste Werbeagentur in Rio überhaupt. Ihre Hochzeitsreise nach Paris im Jahr 1936 markiert den Beginn einer Abfolge unerhörter Begebenheiten: Im Sommer 1940 müssen beide vor den angreifenden deutschen Truppen die Stadt verlassen. Hans und Margarete haben ihre Hochzeitsreise auf vier (!) Jahre ausgedehnt und arbeiten inzwischen als Autorenteam. Hans zeichnet und malt, Margarete verfasst die Texte zu den Kinderbüchern, die in Paris und England erscheinen. Es sind zauberhaft bebilderte Geschichten von zumeist überbordender Phantasie, deren Protagonisten  ausnahmslos Tiere sind. Vergeblich versuchen sie aus Paris auf einem Tandem zu fliehen. Erst nachdem es Hans gelingt, mit Hilfe einiger Ersatzteile daraus zwei halbwegs funktionsfähige einzelne Räder zu fertigen, können sie die Stadt verlassen und sich über Orléans bis nach Lissabon durchschlagen. Grenzbeamten ist naturgemäß das deutsch sprechende Paar verdächtig. Es sind die harmlosen Bilderbücher, die sie in Satteltaschen mit sich führen, die die argwöhnischen Beamten milde stimmen. Von Lissabon aus erreichen sie am 4. August 1940 mit der Angola Rio de Janeiro. Und im Oktober des Jahres 1940 gehen sie in New York an Land. Sie sind endlich in Sicherheit.

Mit den Mitteln meiner Sprache und gebührendem Abstand möchte ich Stationen ihrer Lebensreise aufsuchen und lebendig werden lassen.