Im äußerlich altehrwürdigen ehemaligen Wilhelmgymnasium ist, seit es 1945 umgezogen ist, ein Teil der Hamburger Universität untergebracht. Einen für damalige Verhältnisse monumental wirkenden Kuppelbau hat man in Stahlbetonbauweise dem Allgemeinen Vorlesungswesen errichten lassen. Entsprechend waren es Gastdozenten oder Direktoren wie der des nahegelegenen Botanischen Gartens, die hier dozieren.
Im Inneren des Gebäudes ist das Treppenhaus aus der Gründungszeit noch erhalten, unter dem Linoleum, so scheint es, knarzen die alten Dielen. In den ehemaligen Klassenräumen wird zur Exilliteratur geforscht und, als habe man lange überlegen müssen, welche Disziplinen man hier unterbringt, zur Homöopathie.
Ich bin gekommen, um den einen wissenschaftlichen Artikel über ein Autorenpaar zu lesen, das aus Hamburg fortgezogen und in den Vereinigten Staaten von Amerika zu literarischem Ruhm gelangt ist. Ich erhoffe mir Aufschluss über einige Merkwürdigkeiten der biografischen Abrisse, die ich bislang habe finden können. In der einen oder anderen Ausgabe ihrer Bücher finden sich versprengte biografische Notizen. Insgesamt, so scheint es, bedienen sich alle dabei einer Handvoll biografischer Daten. Zuversichtlich, dass eine Forschungsstelle für deutsche Exilliteratur, sich der Biografie von Hans Augusto Reyersbach und Margarete Waldstein angenommen wird und sich das Dunkel erhellt, trete ich ein.
Ich trete zwischen den bis zur Decke mit Büchern vollgestellten Regalen eines Lesesaales hindurch an eines der Fenster. Anstatt zu lesen, wofür ich hergekommen bin, zieht das subtile Rauschen des Verkehrs meine Aufmerksamkeit hinaus. Doppelte Glasscheiben sperren einen Teil der Frequenzen aus. Das aggressive Ächzen, Tosen und Dröhnen der Achsen, Räder und Motoren, hier drin gibt sich als harmloses Hintergrundgeräusch aus. Man möge sich doch bitte nicht stören lassen beim Studium.
In Lesesälen habe ich statt zu lesen zumeist Menschen beim Lesen beobachtet, habe sie manisch die immer gleiche Haarsträhne aus der Stirn wischen sehen, die Brille sanft zur Nasenspitze hin verschieben und zurückschieben sehen. Nur gelesen habe ich nicht.
Ich habe ich mich gefragt, wer um alles in der Welt sich die Mühe gemacht hat, Sammelbände zur Sittengeschichte des 17. Jahrhunderts akkurat in Kunstleder einzubinden und zu beschriften. Wer eine kühn mit einem Bleistift angebrachte und inzwischen scheinbar sinnfreie Signatur im Buchumschlag angebracht hat. Und wenn ich denn zu lesen begonnen hatte, war es der wie ein heimliches Zeichen angebrachte saubere Knick in einer Buchseite, der meine Gedanken abschweifen ließ.
Statt zu lesen haben ich so lange tatenlos herumgesessen, bis ich zuverlässig die Aufmerksamkeit irgendeiner Bibliotheksaufsicht auf mich gelenkt hatte, weil ich es schaffte, inmitten einer der Bildung des Geistes geweihten Stätte wie derjenige zu wirken, der nur der Trockenheit und Wärme wegen gekommen war, dessen Leseausweis wahrscheinlich unter dubiosen Umständen ausgestellt worden war und daher einer näheren Überprüfung bedurfte.
Die wenigen Seiten des Artikel habe ich dann aber schnell gelesen. Gleich zu Beginn erwähnt die Autorin wie beiläufig, dass der junge mann, der Hans einmal war, damals in genau dem Gebäude zur Schule gegangen ist, indem ich mich befinde, als ich die Worte lese. Sofort reißt meine Konzentration wider ab. Ich schaue mich um und habe keinerlei Schwierigkeiten, den mich umgebenden Raum als Klassenraum des inzwischen umgezogenen ehrwürdigen Wilhelm-Gymnasiums zu sehen.
Das 1881 als Neue Gelehrtenschule gegründete Institut, wird gleich wieder umbenannt. Zu Ehren des Kaisers heißt es zwei Jahre später Wilhelm-Gymnasium. 1885 bezieht man den wuchtigen Neubau in bester Lage. Natürlich dient die Erziehung der Heranbildung dem Kaiser treu ergebener Untertanen Sie ist aber auch humanistischen Idealen verpflichtet. Im fortschrittlichen Wilhelmgymnasium dürfen auch Nichtprotestanten höhere Bildung erhalten. Dass der Jude Hans Augusto Reyersbach hier zwischen 1907 und 1916 das Gymnasium besucht, ist also Ausdruck der liberalen Gesinnung, auf die Hamburg stolz ist.
Die Lehrer unternehmen sogar Ausflüge in die nähere Umgebung. Nach Geesthacht und Reinbeck führen sie ihre Klassen, an den Schaalsee oder nach Mölln und immer wieder in die Lüneburger Heide reisen sie mit dem Zug.
Fotografien aus dieser Zeit zeigen die üblichen Matrosenanzüge und gestärkten Kragen. Sie zeigen aber auch locker auf einem norddeutschen Heideboden sich räkelnde Jungen, einer keck, den Kopf in die Hand gestützt und in die Kamera lächelnd, andere die Pose des Lehrer nachahmend, der mit verschränkten Armen im Hintergrund steht. Der Mann hat offenbar seine Anzugjacke abgelegt und die ganze Szene strahlt eine gelöste und friedliche Stimmung aus, die so gar nicht zum oft von dieser Zeit vermittelten Bild der Schule als Drillanstalt passen will.
Ausflug einer Schulklasse des Wilhelm-Gymnasiums in die Lüneburger Heide,
1913 oder 1914
Zeichenunterricht im Sinne einer Schulung künstlerischer Neigungen oder Fähigkeiten wäre dem Wilhelminischen Gymnasium aber fremd. Gelehrt werden, man beachte die die Reihenfolge der Bücherliste damals: Religionslehre Deutsch, Lateinisch, Griechisch, Französisch und Englisch, Geschichte, Erdkunde, Mathematik und schließlich Naturkunde und Physik. Der Zeichensaal dient also abseits der Ausflüge dem akademischen Studium der Natur.
Jemand hat etwas hereingetragen, das auf dieser Fotografie wie ein strunkiger Baumstumpf aussieht. Ein weiteres Exemplar findet sich rechterhand auf einem Wandregal. Möglich, dass Freihandzeichnen auf dem Lehrplan steht. Jemand hat mit sicherer Hand eine Zeichnung des Objektes angefertigt und die jungen Herren aufgefordert, es ihm gleich zu tun. Der Raum ist menschenleer.
Die jungen Männer in ihren Uniformen lassen wir eintreten in das Bild. Wir dürfen uns vorstellen, wie sie schweigend über die Tische gebeugt zeichnen. Das akademische Zeichenstudium findet in Reih und Glied statt. Einem ist ein Bleistift abgebrochen. Er reicht ihn durch die Reihen zum außen sitzenden Mitschüler, der nach Aufforderung esrt, das Wort an den Lehrer richten darf. Nach einer weiteren Aufforderung darf er nach vorne treten und den Tadel für das zerstörte Zeichengerät entgegennehmen und hat sich nach einer weiteren Aufforderung höflich zu bedanken. Auf umgekehrtem Weg kommt der Stift zurück zum Missetäter. Es bleibt still. Nur das Scharren der Stifte über Papier, ein Stöhnen hin und wieder über eine missglückte Linie ist zu hören.
Vielleicht sitzt Hans am Fenster. Unterhalb der Fenster das Getrappel und Geklacker der Pferdefuhrwerke hören, das Gebrüll der Kutscher und darüber zuweilen das schneidende Quietschen der Bahn, die die Vororte mit dem zu Ehren des Kaisers errichteten Dammtorbahnhof verbindet. Aber das hört er nicht. Durch die geschlossenen Fenster kann er nämlich über die Straße hinsehen und dort Hecken, die den Tierpark und den Botanischen Garten umgeben. Da träumt er sich hin.
Den Artikel will ich zuhause in Ruhe lesen, denn hier finde ich keine mehr, seit die Gymnasiasten des Wilhelm-Gymnasiums mit mir den Raum teilen. Immer noch stehe ich zwischen den hoch aufragenden Regalen und denke mich hinaus, weit hinweg, über die vierspurige Straße, die Bahngleise, den Park, der die funktionalen Gebäude umgibt. Mein Geist fliegt auf und davon. Er findet aber keinen Halt und als er wieder hereinfliegt und ich mich umsehe, sehe ich einen jungen Mann eine flüchtige Skizze anfertigen. War der vorhin schon da? Alle anderen machen sich digitale Notizen, tippen etwas in Tastaturen. Was immer sie auch tun – der sanfte Widerschein der Bildschirme gibt ihrem Schreiben etwas Gewichtiges und Wahrhaftiges. Er aber hat einen karierten Collegeblock vor sich und zeichnet offenbar etwas. Ich beobachte ihn fasziniert, weil ich mir vorstelle, einen der stummen Zeichner aus den letzten Tagen des Kaiserreichs vor mir zu sehen. Vielleicht hat er einfach das Pausenklingeln überhört, hat die Aufforderung des Professor Böhschat überhört, doch bitte den anderen zu folgen. Er ist einfach sitzen geblieben, vertieft in sein Zeichnen. Darüber ist der Krieg ausgebrochen und das ganze verdammte Kaiserreich zu Runde gegangen. Er hat weiter gezeichnet und das Ringen der schwachen Befürworter und machtvollen Feinden der Republik verpasst, den Aufstieg und Fall des 1000jährigen Reiches. Präsidenten sind gekommen und gegangen, Kanzler und Moden, Menschen sind zum Mond geflogen und in der Atmosphäre verglüht. Man hatte sich irgendwann daran gewöhnt, dass er dasitzt und zeichnet und deshalb um ihn herum das Gebäude mehrfach renoviert, sogar Wände versetzt. Hin und wieder hat er aufgesehen, so auch jetzt, war aber zu sehr vertieft in sein Tun, dass er hundert Jahre hat vorbeiziehen lassen und dabei keinen Tag gealtert ist.
Unsere Blicke treffen sich ganz kurz und dann, ich könnte nicht sagen, ob er wirklich wahrgenommen hat, dass ich da bin, geht sein Blick zum Fenster und ins Weite. Ich wünschte, ich könnte mich so versenken in mein Tun.
Hans zeichnet auch dann, wenn das nicht gefordert ist. Sogar dann, wenn es ausdrücklich untersagt ist. Umringt von einer Traube Mitschüler, im Stehen auf dem Schulhof, wenn der Pedell einmal nicht hinsieht oder unter dem Pult im Klassenraum. Er zeichnet zum eigenen Vergnügen und zu dem seiner Mitschüler. Karikaturen der Lehrer kann Hans blind anfertigen, ohne überhaupt das Entstehen mit den Augen zu kontrollieren. Er verfertigt ganze Schülerzeitungen in Eigenregie. Sein Geist ist wach und klar wie der Strich seiner Zeichnungen.
Hans Augusto Reyersbach, Schülerzeitung des Wilhelm-Gymnasiums,
Handschrift und Federzeichnung 25.1.1916
Auch außerhalb des Gymnasiums schult er sein Talent, da zieht es ihn in den nahgelegenen Park, dessen Eingang nur ein Paar Schritte vom Schultor entfernt liegt. Schüler haben freien Eintritt. Dort beobachtet und zeichnet er Tiere. Hans kann Tierstimmen nachahmen wie kein zweiter. Im Botanischen Garten gibt es Pflanzen, die aus Neuguinea stammen, Mexiko oder Brasilien. Für jemanden, der mit Phantasie begabt ist, ist es leicht mehr zu sehen als nur ein Objekt im Kraepelin, dem zerlesenen Bestimmungsbuch, das in der Schule verwendet wird. Zwischen Tieren und Pflanzen kann sich hier wegträumen, an den Amazonas vielleicht.
Vom Wilhelm-Gymnasium sind es nur ein paar Straßen bis zur elterlichen Wohnung. Hans aber kommt zuverlässig zu spät.